Universität in Ljubljana, Philosophische Fakultät, Komparatistik, historische Anzeige, Schissel von Fleschenberg, Otmar
Abstract
Die Universität Ljubljana wurde 1919 gegründet. Unter Fachgebieten der philosophischen Fakultät war auch allgemeine bzw. vergleichende Literaturwissenschaft geplant. Da aber die Stelle noch nicht besetzt wurde, fingen komparatistische Lehrveranstaltungen erst 1926 im Rahmen der Slawistik an; sie wurden hauptsächlich von Slawisten gehalten, bis im Jahre 1937 der erste habilitierte Komparatist Anton Ocvirk angestellt wurde. – Im vorliegenden Aufsatz wird die wenig bekannte Vorgeschichte der Komparatistik in Ljubljana im Zeitraum 1919–20 dargestellt. – Im Grundlagenplan der philosophischen Fakultät wurden sog. nationale Fächer Slawistik und Geschichte mit je 5 Lehrstühlen besetzt, germanische und romanische Philologie nur mit je einem sprachwissenschaftlicher Lehrstuhl; anstatt der entsprechenden Literaturgeschichten war aber ein Lehrstuhl „für allgemeine Literatur und Literaturtheorie“ geplant. – Obwohl die Gründungsväter der Universität in der Regel nach habilitierten und noch zu habilitierenden slowenischen Lehrkräften suchten, war ausnahmsweise schon im Marz 1919 ein Deutschösterreicher als Kandidat für allgemeine Literaturwissenschaft vorgesehen: Dr. Otmar Schissel von Fleschenberg. Während des ersten Studienjahrs 1919–20 wurde er zum außerordentlichen Professor gewählt, dann aber vom Schulministerium in Belgrad unter dem Vorwand abgelehnt, er beherrsche die Landessprache nicht. Der tatsächliche Grund für die Ablehnung war jedoch die Tendenz zur nationalen Homogenisierung des Lehrkörpers. – Den einschlägigen Quellen zufolge ist Schissel als klassischer Philologe, Rhetoriker und Byzantinist bekannt. Er studierte in Graz, er habilitierte sich für deutsche Philologie in Innsbruck und wurde dort 1911 Privatdozent; 1919 kehrte er nach Graz zurück, wechselte sein Habilitationsfach und wurde 1923 außerordentlicher Professor für spätantike und byzantinische Philologie. Er veröffentlichte Bücher und Abhandlungen zur Poetik und Rhetorik sowie zu einzelnen literaturgeschichtlichen Fragen von der Antike bis zur Romantik. Er war mit manchen Slowenen, die in Graz studierten oder lehrten, bekannt, mit einzelnen (J. Kelemina, J. Glonar) sogar eng befreundet; einige von ihnen (F. Ramovš, R. Nahtigal) wirkten später bei der Gründung der Universität in Ljubljana entscheidend mit. Die Schlüsselstellung innerhalb der Beziehungen Schissels zu Slowenien und zu Slowenen gehört allerdings seinem Freund J. Glonar: er studierte Slawistik und klassische Philologie, war bis zur Wende 1918 Bibliothekar in der UB Graz, dann in Ljubljana, daneben war er als Übersetzer, Lexikograph, Herausgeber, Literarhistoriker tätig. – Aufgrund von zahlreichen Briefen Schissels an Glonar aus den Jahren 1913–18 ist es möglich, Genaueres über Schissels berufliche Laufbahn, wissenschaftliche Arbeit und Plane, wie auch über seine weltanschaulichen und politischen Ansichten zu ermitteln. Er betrachtete seine Berufswahl als verfehlt, und fühlte Abscheu vor der deutschen Philologie wegen des in ihr vorherrschenden nationalen Historismus. Er kritisierte das absolutisierte Schema der nationalen Literaturgeschichte. Dagegen wurde er immer mehr zur Erforschung der antiken Überlieferung in europäischen Literaturen hingezogen, die er als das wichtigste Bindeglied im Netz interkultureller Beziehungen betrachtete, und auf dieser Grundlage tastete er sich an die Möglichkeit einer radikalen Umbildung der allgemeinen Literaturwissenschaft mit Hilfe des Begriffsapparats der antiken Poetik und Rhetorik heran. Auch über die Grenzen seines Fachgebiets hinaus war er wegen seiner liberalen und kosmopolitischen Gesinnung entschlossener Gegner eines jeden machtpolitischen Nationalismus, dessen Hauptquelle er im Historismus national-romantischer Herkunft sah. Trotzdem hatte er viel Verständnis für kulturelle und politische Entwicklungstendenzen kleiner Völker. Wegen seiner Ansichten und wegen seiner Konflikte mit Vertretern des deutschen Nationalismus stoß er an seiner beruflichen Laufbahn auf viele Hindernisse. Er versuchte schon bald sein Habilitationsfach zu wechseln; da er dabei jahrelang keinen Erfolg erzielen konnte, beabsichtigte er, seine wissenschaftliche Existenz irgendwo im neutralen Ausland neu aufzubauen. In einem solchen Kontext ist es leichter zu verstehen, wieso Schissel den Mitgliedern der neuen philosophischen Fakultät in Ljubljana trotz seiner deutschen Herkunft als geeigneter Professorenkandidat für allgemeine Literaturwissenschaft erschien, und wieso er gleich bereit war, ihrem Ruf zu folgen.