Die Poetik der Poikilia

Authors

  • Kajetan Gantar

Keywords:

antike Poetik, poikilia, griechische Epik, Nonnos, Dionysiaka, griechisches Geschichtsschreiben

Abstract

Eines der bedeutendsten Axiome der Aristotelischen Poetik ist der Grundsatz von der organischen Einheit eines dichterischen Kunstwerks: ein Gedicht muss ein zῷον ἓν ὅλον sein, ein Organismus, eine Einheit und ein Ganzes, so dass man davon nichts wegnehmen, hinzufügen oder in ihm selbst nichts umstellen kann, ohne dabei seine Einheit und Ganzheit zu zerstören. Wo aber Anwesenheit oder Abwesenheit eines Stücks keine sichtbare Wirkung hat, da handelt es sich gar nicht um einen Teil des Ganzen (1451 a 34–5). Auf dieses Axiom stützen sich alle anderen Grundsätze der Poetik. Dieses Prinzip wird schon bei Platon angedeutet, obwohl es sich noch nicht auf die Dichtung, sondern auf die Redekunst im allgemeinen bezog (vgl. Phaidros 264 c). Dies wurde jedoch von den späteren Dichtern und Kritikern nicht immer beachtet. – Was bedeutet eigentlich zῷον ἓν ὅλον? Oder simplex et unum, wie es auf Latein Horaz in seiner Ars mit leichter Bedeutungsverschiebung wiedergegeben hat? Man muss zuerst den Gegensatz davon betrachten. Der Gegensatz der Einheit scheint eine »Vielheit« zu sein, so wie als Gegensatz der Einfachkeit (ἁπλοῦν) die Vielfältigkeit oder Buntheit (ποικίλον) gelten kann. Dieser Gegensatz kommt oft bei Platon und Aristoteles vor. Das Wort ποικίλον (das Bunte, Vielfältige, Mannigfache) bezeichnet zuerst etwas Neutrales, auf ästhetischer Ebene sogar etwas Positives. Bei Homer kommt ποικίλον fast als Synonym für die Schönheit vor. Und in der Lyrik pflegt Pindar seine Lyra als ποικιλόγαρυς oder ποικιλόφαριγξ zu bezeichnen. – Wo jedoch ποικιλία auf dem Gebiet der Ethik vorkommt, hat sie – neben Tüchtigkeit – oft auch die Nebenbedeutung „Hinterlistigkeit“. So erhält bei Platon z.B. ποικιλία eine ausgeprägt negative Bedeutung bei der Beschreibung der Seelenwelt. Hier befindet sich ποικιλία in Gesellschaft von zwei verwandten Begriffen, ἀνομοιότης und διαφορά, die eine gespaltene und zerstörte Seele bezeichnen (vgl. Rp X 611 b). In „Phaidros“ steht eine bunte Seele (ποικίλη ψυχή) im Gegensatz zu einer einfachen Seele (ἁπλῆ ψυχή). – Auch bei Aristoteles scheint ποικίλον der Gegensatz zu ἁπλοῦν zu sein, sowohl in naturwissenschaftlichen als auch in ethischen oder rhetorischen Schriften, wo z.B. die einfache Rede gelobt, die bunte Rede dagegen als nicht aufrichtig bezeichnet wird (vgl. Rhet. 1416 b 25). In der Ethik wird ein besonnener Mensch gelobt, und zwar eben deswegen, weil er nicht ποικίλος καὶ εὐμετάβολος ist (vgl. EN 1101 a 7). Merkwürdig ist es jedoch, dass in der Aristotelischen Poetik das Wort ποικίλος fast gänzlich vermieden wird. Es kommt nur einmal vor, und zwar an einer Stelle, an der Homer als θεσπέσιος gelobt wird, weil er den trojanischen Krieg nicht im ganzen Umfang behandelte, schließlich könnte so ein Mythos wegen der ποικιλία überkompliziert ausfallen (1459 a 34). – Aristoteles hat in seiner Poetik die Behandlung der ποικιλία nicht zufällig vermieden, denn die Faszination am Prinzip der ποικιλία war besonders in der Poesie des Hellenismus immer stärker zu spüren. Bei Römern hat daher auch Horaz gute Gründe gehabt, seine Ars Poetica mit dem warnenden Exempel eines monstrum ridiculum, eines Bildnisses eines Unwesens, zu eröffnen. Dadurch wurden der Verzicht auf die organische Einheit und die Tendenzen zur Poikilia ad absurdum karikiert. – Diese Tendenz zur dichterischen Gestaltung im Sinne einer möglichst üppigen Poikilia setzte sich in den folgenden Jahrhunderten immer stärker durch. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt im umfangreichsten Epos der spätgriechischen Literatur, im Giga-Epos Dionysiaka des Nonnos Panopolitanus, wo sich der Dichter gleich im Proömium rühmte, ein ποικίλον εἶδος zu singen. Auf die tiefe und beabsichtigte Verwebung des Prinzips der Poikilia mit der Struktur des letzten antiken Epos verwiesen mit feinfühligen Interpretationen sowohl W. Fauth in seinem Buch Eidos poikilon (Göttingen 1981) als auch unlängst H. Bannert im Artikel „Proteus und die Musen“ (Wiener Humanistische Blätter 50, 2008, 46−70). – Interessant ist, dass sich ähnliche Tendenzen nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Prosa durchsetzen, wovon bereits die Titel spätantiker Bestseller zeugten (z.B. Aelians ἵστορία ποικίλη). Merkwürdigerweise hinterließen diese Tendenzen ihre Spuren sogar in der Geschichtsschreibung. Z.B. wurde in einleitenden Kapiteln (bei Polybios, Diodorus Siculus) einerseits das Prinzip der organischen Einheit hervorgehoben, also die gesamte Geschichte möglichst nahe einem lebendigen Organismus (ἐμψύχῳ σώματι παραπλήσιον) zu schreiben, anderseits wurde der Wunsch geäußert, auch die Geschichte sollte an einzelnen Stellen mit ποικιλία geschmückt sein. Sogar Prokopios, der kein nach Bewunderung haschender Vielschreiber war, sondern sich immer bemühte, die Traditionen der antiken Geschichtsschreibung zu bewahren, bedauerte in seinem letzten Buch die bislang übersichtliche Ordnung zu verlassen und eine ἵστορία ποικίλη zu schreiben. Dies kann beinahe als Selbstkritik interpretiert werden, schließlich war die Anziehungskraft der ποικιλία so mächtig, dass auch er selbst dem zeitgenössischen Trend der billigen Buntscheckigkeit verfallen war.

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Published

2017-10-16